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Behaviour Pattern – wie Verhaltensmuster uns beinflussen

2022, die Coronakrise ist zwar noch nicht vorbei, hat aber Ihren ganz großen Schrecken verloren. Sie planen, wenn auch mit etwas Ungewissheit, die nächste Urlaubsreise und kümmern sich für ihre Familie um die Suche nach der Unterkunft. Voraussichtlich werden Sie dies online tun und dabei eine oder sogar mehrere der großen Buchungsplattformen nutzen, um sich die möglichen Appartements oder Hotels an ihrem Zielort anzuschauen. Zuallererst werden Sie die Ergebnisse filtern, vielleicht nach Preis und Ausstattung, sehr wahrscheinlich auch nach der Anzahl vorhandener, positiver Bewertungen.

Bei der gefilterten Auswahl wird Ihnen angezeigt, wie viele andere Menschen ebenfalls an dem Angebot interessiert sind (i. d. R. viele) und vor allem wie viele Zimmer/Appartements aktuell und für den von Ihnen gewählten Zeitraum noch frei sind (i. d. R. wenige). Hinzu kommt, dass es gerade für genau die Unterkünfte, für die Sie sich interessieren, Sonderkonditionen gibt und diese im Vergleich zum „normalen“ Preis (der darunter/daneben steht) preiswert erscheinen. Da können Sie nicht mehr lange widerstehen, zumal sich die Unterkunft gegen einen kleinen Aufpreis auch noch kostenfrei stornieren lässt.

Kognitive Leichtigkeit, Ambiguitäts-Aversion, Effekt der klaren Darstellung, Focusing Effect, Social Proof, Scarecity, Anker-Effekt, Endowment-Effect – dieser prototypische Kaufprozess (Customer Journey) beinhaltet bereits mehr als ein halbes Dutzend Verhaltensmuster (engl. „Behavior Pattern“), die kluge Marketingstrategen und Werbepsychologen nutzen, um den Konsumenten zum Klick beziehungsweise zum Kauf zu animieren. 

Behavior Pattern sind (kognitive) „Verhaltensmuster“. Diese Verhaltensmuster basieren auf Erkenntnissen aus der Forschung der unterschiedlichen psychologischen Disziplinen wie z. B. der Allgemeinen Psychologie, der Kognitions- und Sozialpsychologie, sowie der Verhaltensökonomie.

In vielen Artikeln zum Thema Behavior Pattern wird als Erklärung die „Zwei-Systeme Theorie“ herangezogen, die der aktuell wohl populärste Psychologe Daniel Kahneman in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ (Leseempfehlung) anschaulich beschreibt. Allerdings ist Kahneman weder der erste noch der einzige Psychologe, der diese oder ähnliche Theorien postuliert. Kahneman (2012) selbst schreibt, dass die Termini „ursprünglich von den Psychologen Keith Stanovich und Richard West eingeführt wurden“.

Die Zwei-Systeme Theorie

Diese Theorie besagt, dass unser Denken im Groben auf zwei Systemen basiert:
  • Einem schnellen System 1 (Autopilot), das intuitiv, automatisch, immer aktiv, emotional, stereotypisierend und unbewusst (implizit) reagiert. Die Nutzung des System 1 beansprucht nur wenig Energie und arbeitet mit einer Geschwindigkeit von 11 Millionen Bits/Sek.
  • Einem langsamen System 2 (Pilot), das selten aktiv ist und rational, überlegt, logisch, berechnend und bewusst (explizit) agiert. System 2 beansprucht viel Energie und arbeitet lediglich mit einer Geschwindigkeit von 400 Bits/Sek.

Unser System 1 ist eine Art „Notfall- und Überlebenssystem“. Es entwickelt sich während unseres Lebens laufend, speichert Informationen (spontane Eindrücke und Gefühle), die an Emotionen gebunden sind und steuert auch Körperfunktionen wie unser Nervensystem inklusive Atmung und Herzschlag.

Das System 2 können wir als unser bewusstes „Ich“ bezeichnen, mit dem wir uns in der Regel auch identifizieren. System 2 plant, analysiert, denkt abstrakt und ist in der Lage Einflussfaktoren logisch einzuordnen und Entscheidungen auf Basis rationaler Argumente zu treffen. Wir nutzen System 2 auch, wenn wir etwas ganz Neues lernen. Daher braucht es auch so viel Energie. Das Gefühl mentaler Erschöpfung weist uns darauf hin, dass wir unser System 2 überbeansprucht haben.

Wenn wir z. B. eine zu große Auswahl haben, vielleicht wie in der zu Beginn beschriebenen Suche nach Urlaubsunterkünften und bereits viele Unterkünfte miteinander verglichen haben, setzt kognitive Ermüdung ein, die uns dazu verleitet, auf das zurückzugreifen, was einfach für uns ist (kognitive Leichtigkeit) oder was uns vertraut erscheint (Ambiguitäts-Aversion/Elsberg-Paradoxon). Unser Autopilot wird aktiv und macht uns anfällig für auffällige Sonderangebote (Focus-Effect, Anker-Effekt).

92 – 98 % unserer Entscheidungen werden von System 1 – unserem Autopiloten – getroffen.

Die Dominanz des System 1 (Autopilot) ist evolutionsbedingt. Im Alltag nutzen wir überwiegend unseren schnellen und intuitiven Autopiloten und überlassen diesem aus Bequemlichkeit unbewusst die Steuerung. Die Wissenschaftler sind sich nicht ganz einig und sprechen davon, dass 92 – 98 % aller Entscheidungen über unseren Autopiloten gefällt werden.

Damit unser Autopilot so schnell Entscheidungen fällen kann, nutzt unser Gehirn Denkabkürzungen oder „Faustregeln“, sog. Heuristiken. Diese Heuristiken basieren auf unserem erlebten Erfahrungswissen – unser Gehirn greift bei Entscheidungen gerne auf bereits bestehende kognitive Strukturen und Muster zurück. Im Volksmund sprechen wir dann von intuitiven Entscheidungen.

Diese intuitiven Entscheidungen, die auf Heuristiken basieren, bilden die Grundlage vieler Behavior Pattern.

Kahneman vs. Gigerenzer

Über die Nützlichkeit des Heuristiken scheiden sich die wissenschaftlichen Geister. Für Daniel Kahneman haben viele Heuristiken einen eher negativen Einfluss auf unsere Entscheidungen und führen zu Fehleinschätzungen, Denkfehlern und Denkverzerrungen. Für den deutschen Psychologen Gerd Gigerenzer wiederum, sind Heuristiken hilfreich, um auch schnell und unkompliziert richtige Entscheidungen im Alltag treffen zu können (fast and frugal heuristics).

Für jede dieser Auffassungen sprechen empirische Studien, sodass sich die beiden Psychologen in den letzten Jahren in ihrem wissenschaftlichen Diskurs angenähert haben. Grundsätzlich kann man sagen, dass intuitive Entscheidungen auf Basis von Heuristiken, den Alltag erst möglich machen und oft auch nützlich sind, allerdings nicht immer. 

„People rely on a limited number of heuristic principles which reduce the complex tasks of assessing probabilities and predicting values to simpler judgmental operations. In general, these heuristics are quite useful, but sometimes they lead to severe and systematic errors.“ (Tversky & Kahneman, 1974, p.1124)

Less-is-more-Effect

Es gibt Situationen, in denen fehlendes Wissen informativ und hilfreich sein kann. Goldstein und Gigerenzer (2002) haben in einem sehr bekannten Experiment untersucht, wie die Rekognitionsheuristik Nichtwissen systematisch ausnutzt, um zu guten Entscheidungen zu kommen:

Die beiden Wissenschaftler haben ihren Probanden in den USA und in Deutschland Paare amerikanischer Städtenamen dargeboten, mit der Frage: Welche Stadt hat mehr Einwohner, San Diego oder San Antonio?

Zwei Drittel der amerikanischen Probanden hatten diese Frage richtig beantworteten. Erstaunlich ist jedoch, dass die deutschen Probanden eine deutlich höhere Trefferquote hatten und korrekt auf San Diego tippten. Obwohl sie weit weniger über die amerikanischen Städte wussten als die amerikanischen Probanden.

Die Erklärung dafür ist, dass die meisten Deutschen vermutlich wussten, dass es sich bei San Diego um eine amerikanische Stadt handelt, während sie von San Antonio vermutlich noch nie etwas gehört hatten. Allein aufgrund der Tatsache, dass sie die eine Stadt kannten und die andere nicht, schätzten die deutschen Probanden, dass diese auch mehr Einwohner hat. Goldstein und Gigerenzer (2002) sprechen dabei auch von dem Less-is-more Effekt der Rekognitionsheuristik.

Die Rekognitionsheuristik besagt, dass unter bestimmten Umständen weniger Wissen zu besseren Erkenntnissen führen kann und wir dann (und zwar nur dann) für unsere Entscheidungen Informationen, die bekannt sind, unbekannten Informationen vorziehen. Allerdings funktioniert die Rekognitionsheuristik nur, wenn genau eine Alternative erkannt wird und die andere nicht.

Die amerikanischen Probanden konnten die Rekognitionsheuristik nicht anwenden, da sie beide Städte kannten und zu viel wussten.

Das Linda-Problem

Kahneman und Frederick (2002) untersuchten die Repräsentativitätsheuristik ebenfalls und konfrontierten Probanden mit folgender Beschreibung:

Linda ist 31 Jahre alt, ledig, offen und sehr intelligent. Sie hat einen Abschluss in Philosophie. Als Studentin war sie sehr stark interessiert am Problem der Diskriminierung von Frauen und an der sozialen Gerechtigkeit und nahm an Anti-Atomkraft-Demonstrationen teil.

Dann sollten die Probanden unter den folgenden Aussagen bestimmen, was sie für wahrscheinlich hielten:
1. Linda ist Feministin
2. Linda ist Angestellte einer Bank
3. Linda ist Angestellte einer Bank und aktive Feministin

Die Probanden schätzen die Wahrscheinlichkeit, dass Linda Feministin UND Bankangestellte ist, deutlich höher ein als die Wahrscheinlichkeit, dass sie nur Bankangestellte ODER Feministin ist. Sie haben diejenige Antwort gewählt, bei der die höchste Übereinstimmung mit der prototypischen Beschreibung besteht.

Das Linda-Problem demonstriert ganz gut, dass Menschen mit Wahrscheinlichkeit schlecht umgehen können. Darüber müssten sie angestrengt nachdenken und wie wir bereits wissen, tun das Menschen prinzipiell nur ungern.

Dafür erkennen Menschen mühelos Ähnlichkeiten und formen aus Schilderungen automatisch ein Bild. So auch von Linda, deren Beschreibung eher repräsentativ für eine Feministin erscheint und weniger für eine Bankangestellte. Unter der Prämisse, dass Menschen in der Regel einer bezahlten Beschäftigung nachgehen, erscheint die feministische Bankangestellte für die Probanden am wahrscheinlichsten.

Ein weiteres Beispiel: Der Cognitive Reflection Test von Shane Frederick

Ein Schläger und ein Ball kosten zusammen 1,10 EUR. Der Schläger kostet 1 EUR mehr als der Ball. Wie viel kostet der Ball?
Die Lösung gibt es am Ende des Artikels

Wir ersetzen die schwierige Frage nach der Wahrscheinlichkeit mit der einfachen Frage nach der Ähnlichkeit. Diese Art der intuitiven Urteile werden schnell und automatisiert getroffen, könnten aber prinzipiell durch reflektiertes Nachdenken korrigiert werden. Dies erfordert jedoch eine gewisse Aufmerksamkeit, die mit Anstrengung verbunden ist und auf die wir Menschen als „kognitive Faulpelze“  gerne verzichten und lieber das intuitive Urteil als gültig anerkennen.

Unbestritten haben Verhaltensmuster bzw. Heuristiken Vor- und Nachteile und definitiv einen Einfluss darauf, wie wir urteilen und Entscheidungen treffen.

Behavior Pattern im Einsatz

Der engl. Begriff wird in den meisten Fällen im Kontext der Entwicklung von Benutzeroberflächen (User Interface Design) und der Optimierung der Benutzererfahrung (User Experience Design) bei komplexer Software und digitalen Anwendungen verwendet.

Mittlerweile gibt es weit mehr als hundert verschiedene Behavior Pattern, deren Wirksamkeit in unterschiedlichen Studien validiert wurde und die als Marketing-Instrument genutzt werden können, um Leads zu generieren, Conversion-Rates zu erhöhen oder schlicht dem Anwender die Benutzung der Software zu erleichtern.

Allerdings sind die Behavior Pattern, die das Kaufverhalten beeinflussen können, keine Blaupause für ein erfolgreiches E-Commerce-Business oder die Steigerung des Umsatzes. Die Wirksamkeit der unterschiedlichen Verhaltensmuster kann, kontextabhängig von Situation und Individuum, stark variieren. Außerdem reagieren Verbraucher sehr sensibel auf spürbare Manipulationen (Stichwort „dark pattern“).

Behavior Pattern werden auch nicht ausschließlich bei digitalen Anwendungen und dem User Experience Design eingesetzt, sondern kommen ebenfalls bei der Gestaltung von Verkaufsräumen oder dem öffentlichen Raum, der Verkaufsförderung am POS, der Werbung im allgemeinen, der Gestaltung und Steuerung von Gruppen- und Arbeitsprozessen sowie der Einführung und Durchsetzung von gesellschaftspolitischen Maßnahmen zum Einsatz.

Einige der bedeutendsten Verhaltensmuster mit Beispielen aus dem Alltag und der Arbeitswelt werden wir in den kommenden Monaten vorstellen.

* Lösung „Cognitive Reflection Test“: Der Ball kostet 5 Cent – rechnen Sie nach.
Quellen:
Kahneman, D (2012). Schnelles Denken, Langsames Denken. [EPub], München: Siedler Verlag.
Goldstein, D. G. & Gigerenzer, G. (2002). Models of ecological rationality: The recognition heuristic. In: Psychological Review. 109, 1. S. 75–90. doi:10.1037//0033-295X.109.1.75
Kahneman, D. & Frederick, S. (2002). Representativeness Revisited: Attribute Substitution in Intuitive Judgment. Heuristics and biases: The psychology of intuitive judgment. 49. 49–81. doi: 10.1017/CBO9780511808098.004
Tversky, A. & Kahneman, D. (1974) Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases. Science, New Series, Vol. 185, No. 4157.
Bildnachweise:
San Diego skyline 2018. Wikipedia. ©Photo by Walt Barford. This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en)
Downtown San Antonio. Wikipedia. ©Photo by Ken Kinde. This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en)
The Cognitive Bias codex – list of cognitive biases (wikipedia, 2016). Arranged and designed by John Manoogian III. Categories and descriptions originally by Buster Benson. This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en)
Dieser Artikel wurde am 09.02.2021 auf der Plattform matter-of-design.com veröffentlicht.
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