Aktuell ist ein „offener Arbeitsmarkt“ und die Art und Weise, wie neue Mitarbeitende angeworben werden sollen, für viele Unternehmen ein großes Thema.
In einem offenen Arbeitsmarkt haben die Arbeitnehmer:innen mehr Möglichkeiten, den für sie passenden Job zu finden, während Unternehmen von einer größeren und qualifizierteren Bewerberpool profitieren. Ein offener Arbeitsmarkt kann auch zu einem höheren Wettbewerb führen, was die Qualität der Arbeitnehmer:innen und die Arbeitsbedingungen insgesamt verbessert.
Aus meiner Sicht setzt ein offener Arbeitsmarkt voraus, dass deren Teilnehmer:innen auch genau das sind – offen, im Sinne von aufgeschlossen!
Das heißt Organisationen, genauer gesagt, die Menschen, die darin arbeiten und noch konkreter, die wenigen Menschen, die wiederum dafür Verantwortung tragen, andere Menschen einzustellen, sollten sich den psychologischen Mechanismen beim Urteilen und Bewerten von Bewerber:innen bewusst sein.
Wir alle haben prototypische Bilder von Menschen im Kopf, die eine objektive Beurteilung von potenziellen Bewerber:innen erschweren: Aufgrund von Alter, Geschlecht, Bildung(abschluss), Beruf, ethnischer Hintergrund, Herkunft, Name und Titel (der Herr Doktor) u. a. können Bewerber:innen, unabhängig von ihrer faktischen Qualifikation, unbewusst diskriminiert und benachteiligt werden.
Die individuellen Motive und Werte sowie die Persönlichkeit des/der HR-Entscheider:in können situativ mit den Zielen und Werten der Organisation konkurrieren (welcher Manager würde schon gerne einen Mitarbeitenden einstellen, der eine hohe Ähnlichkeit zum/zur verhassten Ex-Partner:in hat).
Arbeitgeber können dazu neigen, nur nach Informationen zu suchen, die ihre vorherigen Annahmen bestätigen, und Informationen zu ignorieren, die ihren Annahmen widersprechen. Dies kann dazu führen, dass qualifizierte Bewerber abgelehnt werden, weil sie nicht in das Bild passen, das der Arbeitgeber im Kopf hat.
Gemäß dem Sprichwort „Es gibt keine zweite Chance für den ersten Eindruck“ erfolgt eine Bewertung von Bewerber:innen bereits auf Grundlage erster Hinweisreize (z. B. dem Aussehen —> siehe Nimbus-Effekt). Der erste Eindruck „strahlt” auf alle nachfolgenden Eindrücke ab. Nachfolgenden Hinweisreize werden dann entsprechend der ersten (positiven/negativen) Bewertung positiv/negativ verzerrt bewertet. Ein typischer Bias, der zum Beispiel auftritt, wenn wir einen Lebenslauf lesen und uns die erste Position bereits gefällt oder nicht gefällt. Allein dies hat Auswirkungen darauf, wie wir den Rest des Lebenslaufs (positiver/negativer) bewerten.
Das Attraktivitätsstereotyp gehört in die Kategorie des Halo-Effekts und besagt, dass überdurchschnittlich gut aussehenden Menschen auch überdurchschnittlich häufig mit positiven Eigenschaften in Verbindung gebracht werden. Attraktive Menschen haben tendenziell höhere Chancen in Bewerbungsprozessen und werden kompetenter eingeschätzt als durchschnittlich aussehenden Mitbewerber. Deshalb ist es auch sinnvoll, bei Bewerbungen KEIN Foto mehr zu fordern.
Der Affinity-Bias besagt, dass wir Menschen eher vertrauen, wenn sie uns in vielen Punkten ähnlich sind. Der sog. „Cultural Fit“, der von vielen Unternehmen propagiert und bei dem geschaut wird, ob potenzielle Mitarbeiter:innen die Werte des Unternehmens teilen, öffnet dem Affinity-Bias Tür und Tor. Wenn Unternehmen zu stark darauf bedacht sind, nur mit Menschen zu arbeiten, die sie an sich selbst erinnern, dann entstehen homogene Teams, denen es an Vielfalt mangelt und die daher nie von neuen Perspektiven profitieren können. (siehe auch: Conformity Bias, Groupthink, In-Group-Bias)
Arbeitgeber können dazu neigen, sich bei der Beurteilung von Bewerbern stärker auf die ersten und letzten Informationen zu konzentrieren, die sie erhalten, anstatt alle Informationen objektiv zu betrachten. Dies kann dazu führen, dass Bewerber aufgrund von irrelevanten oder unwichtigen Informationen bevorzugt oder benachteiligt werden.
Bewerber:innen könnten dazu neigen, sich in ihren Fähigkeiten und Erfahrungen zu überschätzen, um sich als qualifizierter darzustellen, als sie tatsächlich sind.
Personaler:innen beurteilen die Leistung eines potenziellen Mitarbeitenden implizit auch auf Basis der Leistung des/der Vorgänger:in. Hat diese/r eine negative Leistung erbracht, wird der/die neue, potenzielle Nachfolger:in tendenziell positiver bewertet. Genauso umgekehrt. Je stärker der Kontrast zwischen Vorgänger:in und Nachfolger:in im Rahmen eines Bewerbungsprozesses ausfällt, desto stärker wird der Kontrast gewertet und der Eindruck in die jeweils entgegengesetzte Richtung verzerrt.
Wenn wir komplexere Entscheidungen fällen müssen, dann nimmt unser Gehirn gerne unbewusst eine Abkürzung: Wir bewerten eine Situation oder fällen eine Entscheidung nicht nach sorgfältiger Abwägung klarer Fakten, sondern dahin gehend „wie wir uns bei der Entscheidung fühlen“. Im Volksmund spricht man gerne von Bauchgefühl. Für den Bewerbungsprozess kann dies bedeuten, dass ein Blender, der sich im Gespräch überzeugend verkaufen/verstellen kann oder schlicht „sympathischer“ wirkt, einem faktisch kompetenteren Bewerber vorgezogen wird (Stichwort: Prinzipal-Agent-Theorie)
Fazit: Um im Rahmen von Rekrutierungsprozessen auf einem offenen Arbeitsmarkt faire und objektive Entscheidungen – zum Wohl der Unternehmen und der Bewerber:innen – treffen zu können, ist es ist wichtig, dass Arbeitgeber und Bewerber:innen sich der oben aufgeführten psychologischen Phänomene bewusst sind.