Unsere Willenskraft 🧠 ist erschöpflich und wird durch die sog. Ego-Depletion (Baumeister et al. 1998, 2000) bzw. der Entscheidungsmüdigkeit beeinflusst.
Das ist zumindest das, was man bis vor wenigen Jahren noch glaubte.
Ego-Depletion bzw. Selbsterschöpfung bezeichnet dabei die Grenze unserer Willenskraft. Je häufiger wir Entscheidungen treffen und/oder Versuchungen widerstehen, desto stärker wird unsere Willenskraft „verbraucht“.
Roy Baumeisters ursprüngliches Experiment (Baumeister et al., 1998) auf dem sich die „Selbsterschöpfung“ begründet, wurde vielfach erfolgreich repliziert. Mit einer Studie aus 2007 (Gailliot & Baumeister) konnte sogar nachgewiesen werden, dass die Selbsterschöpfung vom Blutzuckerspiegel abhängt:
- Bei einer hohen mentalen Beanspruchung sinkt der Blutzuckerspiegel.
- Ego-Depletion mit einer einhergehender verringerten Selbstkontrolle trat insbesondere bei einem niedrigen Blutzuckerspiegel auf.
Auf diesen Ergebnissen begründet sich das „Ressourcenmodell der Selbstkontrolle“.
Diese Ergebnisse wurden mit einer Metastudie (Hagger, 2010) bestätigt, womit sich der Glaube an die Ego-Depletion manifestierte und letztlich auch zum Bestseller „Die Macht der Disziplin“ (Baumeister, 2012) führt, der die Erkenntnisse und das Ressourcenmodell der Selbstkontrolle auch dem breiten Publikum zugänglich machte.
🚨 Leider wies die Metastudie einige gravierende Mängel auf (Einbeziehung von Studien mit fragwürdigem Studiendesign und widersprüchlichen Ergebnissen) und unterlag insbesondere dem sog. „Survivorship-Bias“ (https://shrtm.nu/tMb), also einer statistischen Verzerrung, die sich darauf bezieht, dass die Studie lediglich diejenigen Studien untersuchte, die einen positiven Effekt der Ego-Depletion nachweisen konnten. Studien mit negativen oder ohne Effekte wurden schlicht vernachlässigt (siehe auch „File-Drawer-Effekt –> https://shrtm.nu/tM9) und nicht berücksichtigt (Carter & McCullough, 2014; Carter et al., 2015).
- Ego-Depletion ist eine Form der Selbsterfüllende Prophezeiung, die vom interindividuellen Glauben an der Erschöpfung der Willenskraft abhängt (Dweck, 2013; Job et al., 2010; Konze et al. 2017).
- Der Effekt, dass eine Zufuhr von Glucose zu einer Erholung der Willenskraft führt, ist ebenfalls vom Glauben an die Erschöpfung der Willenskraft abhängig (Jobs et al. 2013).
- Ego-Depletion ist interkulturell unterschiedlich: Im indischen Kulturkreis tritt eine sog. „Reverse Ego-Depletion“ auf, da Inder daran glauben, dass der Einsatz von Willenskraft zu dessen Stärkung führt (Savani & Job, 2017).
- In einer großangelegten Studie konnten keine Effekte festgestellt werden (Sripada et al., 2014)
⚡️ Da sich Roy Baumeisters wissenschaftlicher Karriere überwiegend auf der Erforschung der „Ego-Depletion“ begründet, ist es kein Wunder, dass er an seiner Theorie festhält und Argumente anführt, warum die oben genannten Studien seine gefundenen Erkenntnisse NICHT widerlegen.
Unabhängig vom Für und Wider der verschiedenen theoretischen Konzepten der Selbsterschöpfung, gibt es viele Studien, die nachweisen konnten, dass der Zustand der Willenskraft in Form von Entscheidungsermüdung oder Ermüdung im Allgemeinen eine Wirkung auf die tatsächliche und gefühlte Qualität unserer Entscheidungen im Alltag haben kann. Jeder wird dies auf Grundlage seiner persönlichen Erfahrung nachvollziehen können.
- Willenskraft ist (selbstverständlich, wie ich finde) NICHT vollständig unbegrenzt und steht in Korrelation zum interindividuellen Energielevel. Jeder Mensch benötigt ausreichend Erholung, Schlaf und Pausen (Evans et al, 2016).
- Effekte mentaler Anstrengung wirken sich auf Entscheidungen aus, herausfordernde Aufgaben anzugehen oder eben nicht (Friese et al., 2018).
- „The paradox of choice“ – Je mehr Auswahlmöglichkeiten wir haben, desto schlechter (oder gar nicht) fällen wir Entscheidungen (u. a. Dar-Nimrod et al., 2009; Kinjo & Ebina, 2014; Oulasvirta et al. 2009; Schwartz & Ward, 2004; Schwartz, 2015).
- Burkley (2008) hat herausgefunden, dass erschöpfte Personen weniger in der Lage waren, überzeugenden Argumenten und Botschaften zu widerstehen. Selbst dann, wenn diese Argumente Schlussfolgerungen beinhalteten, die die Versuchspersonen von Natur aus ablehnen würden.
- Wohltätigkeitsorganisationen können die Spendenbereitschaft maximieren, indem sie morgens für Botschaften mit anderen Vorteilen und abends für Botschaften mit Eigennutz werben. (Jin et al. 2021)
- Eine großangelegte dänische Studie, konnte aufzeigen, dass Schüler an öffentlichen Schulen mit jeder Stunde, die ein Test später stattfand, schlechtere Leistungen erbrachten, aber eine 20- bis 30-minütige Pause vor dem Test die Leistung verbesserte (Sievertsen, Gino, & Piovesan, 2016)
- In Krankenhäusern sinkt die Verbindlichkeit, sich die Hände zu desinfizieren, von Beginn bis zum Ende einer typischen Arbeitsschicht um nahezu 9 %. Die Effekte waren noch stärker, wenn es keine Pausen während der Arbeitsschichten gab, oder die Arbeitsintensität extrem hoch war (Dai et al., 2015).
- Haben Wähler bereits mehrere Wahlentscheidungen getroffen, häufen sich bei weiteren/späteren Entscheidungen die Anzahl der Enthaltungen (Standardoption —> Status Quo Bias –> https://shrtm.nu/tYE). Ebenfalls konnten die Forscher feststellen, dass die Entscheidung bei Mehrkandidatenentscheidungen, für den erstgenannten Kandidaten zu stimmen ebenfalls zunahm (Augenblick & Nicholson, 2016)
- Hohe Selbstkontrollanforderungen in Unternehmen sind mit einem Affektregulationsmotiv verbunden, das wiederum mit einem erhöhten Verzehr von süßen Snacks am Arbeitsplatz assoziiert wurde (Sonnentag et al. 2017).
- In einer Studie an einer Gruppe minderjähriger sozialer Trinker wurden die täglichen Anforderungen an die Selbstkontrolle mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit in Verbindung gebracht, das selbst auferlegte Trinklimit zu überschreiten (Muraven et al., 2005).
- Die Bewährungsentscheidungen von Richtern werden von gerichtsfremden Faktoren wie der Tageszeit (vor oder nach einer Mittagspause sowie zu Beginn/am Ende eines Tages), zu der der Fall verhandelt wird, beeinflusst (Daljord et al., 2017; Danziger, et al., 2011).
- Menschen, die erschöpft sind, setzen bei der Zielverfolgung für sich und insbesondere für andere in der Tendenz niedrigere Ziele (Lyu et al., 2017).
- Verbraucher zeigen bei aufwandsorientierten, unsicheren Werbeaktionen, sowie geschicklichkeitsorientierten und am wenigsten glücksorientierten Werbeaktionen einen hohen Grad an Selbsterschöpfung. Dabei konnte ebenfalls festgestellt werden, dass der Grad der Selbsterschöpfung einen negativen Einfluss auf die kurzfristige Handlungszufriedenheit und die langfristige Markentreue haben (Tang et al., 2022).
Lesetipp:
Das öffentlich zugängliche Paper „Is Ego Depletion Real? An Analysis of Arguments“ von Friese und Kollegen (2018) gibt einen, wenn auch nicht ganz aktuellen, aber dennoch guten Überblick über den Stand der Forschung zur Ego-Depletion.